Systemische Pädagogik in der Grundschule
Können Sie sich an Ihre Grundschulzeit erinnern? Vermutlich. Denn die ersten Schuljahre prägen uns ganz besonders. So ist auch die erste Lehrerin (meist sind es Frauen) eine wichtige Persönlichkeit in unserer Biografie. Neben den Eltern ist sie eine der Bezugspersonen, die unseren Weg begleiten und somit deutliche Spuren hinterlassen. In der Grundschulzeit lernen wir, uns in Gruppen zurechtzufinden, mit Autoritäten umzugehen und natürlich auch – zu lernen.
Erika Gollor ist eine Lehrerin, die Kinder seit vielen Jahren in den ersten Schuljahren begleitet. Sie unterrichtet an einer Montessorischule Kinder der 1. bis 4. Klassenstufe im Klassenverband, gemeinsam mit einem pädagogischen Assistenten. Neben der Montessori-Ausrichtung der Schule oder besser inmitten dieser Ausrichtung, setzt Frau Gollor die Konzepte der systemischen Pädagogik um. So ist es ganz offenbar möglich, gerne Lehrer zu sein und Schülern einen Lernraum zu bieten, in dem sie sich wohlfühlen können.
Was ist systemische Pädagogik?
Die Autorin erklärt dies sehr anschaulich. Kurz zusammengefasst bedeutet die systemische Sichtweise, „weit“ auf das Kind zu blicken und das einzelne Kind als ein Teil verschiedener Systeme zu erkennen. Unter Systemen versteht man hier Gruppengefüge mit wechselseitigem Einfluss.
Zu Erika Gollors Verständnis von systemischer Pädagogik gehören aber noch einige weitere Grundsätze:
• Zugehörigkeit (Bedürfnis und Recht)
• Reihenfolge des zeitlichen Eintritts (in die Gruppe/Gemeinschaft)
• Vorrang der Gruppe (vor dem Einzelnen)
• Stärken erkennen, Ressourcen nutzen (beim einzelnen Kind)
• Der Blick auf die Lösung (nicht an Problemen hängen bleiben)
• Die Verbundenheit des Kindes mit seinem Familiensystem
• Wertschätzung und Achtung der Eltern
Viele Beispiele machen die kurzweiligen theoretischen Ausführungen verständlich und zeigen die praktische Umsetzung.
Ein Beispiel (S. 40):
Hier hat eine Lehrerin das Problem, ein Kind als sehr anstrengend zu empfinden. Sie ist genervt, weil das Kind so viel Aufmerksamkeit einfordert. In der Arbeit mit der Supervisorin erfährt die Lehrerin, dass ihre eigene Biografie in ihrem Verhalten und Denken eine große Rolle spielt. Eine Aufstellung bringt hier Klarheit für die Lehrerin. Sie kann jetzt anders vor die Klasse treten, ist erstaunt darüber, wie sich das „nervige“ Kind verändert hat. Doch es ist anzunehmen, dass sich vor allem die Haltung der Lehrerin verändert hat.
Das dritte Kapitel befasst sich mit dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Ausführlich beschreibt Erika Gollor das Aufnahmeritual für die Erstklässler der Montessorischule Peißenberg sowie weitere Aufnahme und Abschiedsrituale. Hier wird vor allem deutlich, wie wichtig der achtsame, respektvolle und wertschätzende Umgang miteinander ist. So kann schon das sich angemessen grüßen und verabschieden kann Kindern Kraft und Halt geben.
Auch das nächste Kapitel zeigt die Bedeutung der Zugehörigkeit. Mithilfe von Ärger- und Freuderunden können Kinder zu festen Zeiten in angemessener Form ihren Ärger und auch Freudiges erzählen. Dies findet immer vor dem Wochenende statt, sodass alle gestärkt die freien Tage genießen können. Erste Regeln sorgen dafür, dass respektvoll und gewaltfrei miteinander gesprochen wird. Es klingt hart, dass das angesprochene Kind nicht Stellung nehmen soll. Doch so bleiben auch Diskussionen und Verteidigungshaltung aus. Interessant ist, dass hier die Kinder allein sprechen. Lehre halten sich heraus und bei geübten Gruppen gehen sie sogar aus dem Raum. Lehrern gibt diese Runde die Möglichkeit, Einblick in de Alltagssorgen der Kinder zu bekommen und sie bei deren Lösungen zu unterstützen. Kinder lernen, zu kommunizieren, mit Frustration, Kritik und Lob umzugehen und sich in der Gruppe anerkannt zu fühlen.
Sehr gut ist der Hinweis für zeitlich sehr eingebundene Lehrer, was Kinder in diesen Runden lernen. Eine Aufstellung gibt detailliert Auskunft darüber.
Schullandheim, Geburtstage und Spielen sind weitere Themen zur Förderung der Gemeinschaft, die in diesem Buch besprochen werden. Auch hier wird vieles gelernt, was die Lehrpläne vorschreiben. Jedoch nicht im zentralen Fachunterricht, sondern praktisch und lebensnah umgesetzt.
Fazit: Dieses Buch ist ein wahrer Schatz für Lehrer(innen), Erzieher(innen), Tagesmütter, Eltern und überhaupt alle Menschen, die mit Gruppen, Kindern und sich selbst zu tun haben. Erika Gollor schreibt so einfühlsam, wie sie unterrichtet, in klarer Sprache, gut strukturiert und übersichtlich. Ich bin sehr dankbar, dass sie mir die Ansätze der systemischen Pädagogik so praxisnah näher gebracht hat.
Erika Gollor: Hier fühle ich mich wohl. Carl-Auer-Systeme Verlag 2015
ISBN 978-3-8497-0063-8
